Stanislaw Tillich zur Rolle der Senate im parlamentarischen Entscheidungsprozess
Sehr geehrter Herr Präsident Comte,
liebe Kolleginnen und Kollegen!
Zunächst möchte ich unserem Gastgeber, Herrn Ständeratspräsidenten Comte danken - für die Einladung ins schöne Bern und den Empfang gestern Abend.
Der Schweizer Ständerat gehört mit seiner 170-jährige Geschichte zu den älteren der hier versammelten Zweiten Kammern. Der deutsche Bundesrat ist im Vergleich geradezu »jung«mit seinen 67 Jahren - dafür bezeichnen wir ihn zu Hause gern als »immerwährend«.
Er kennt keine Legislaturperioden und keine Diskontinuität. Er erneuert sich in seiner Zusammensetzung fortlaufend, abhängig von den Wahlergebnissen in den Ländern. Er bringt damit große Kontinuität in das Zusammenwirken der Verfassungsorgane des Bundes.
Diese Kontinuität besteht auch im Hinblick auf seine Kompetenzen. Andere zweite Kammern stehen derzeit vor großen Umwälzungen - ich denke dabei etwa an die belgischen und die italienischen Kollegen.
Der Bundesrat nimmt seine Aufgaben weitgehend unverändert wahr und wirkt seit 1949 in den verschiedenen Stadien des Gesetzgebungsverfahrens mit:
als Initiator eigener Entwürfe,
als Berater mit Stellungnahmen zu Gesetzentwürfen der Bundesregierung,
oder als Entscheider über Beschlüsse des Deutschen Bundestages.
Verändert hat sich im Laufe der Jahre aber der Anteil der Gesetze, denen der Bundesrat ausdrücklich zustimmen muss. Anfangs waren es zwischen 50 und 60 Prozent - heute ungefähr 40 Prozent. Dies ist das Ergebnis der Föderalismusreform von 2006, die ausdrücklich das Ziel hatte, die Zustimmungstatbestände einzuschränken.
Manche haben eine Marginalisierung des Bundesrates gefürchtet. Sie ist ausgeblieben. Die Rolle und Bedeutung des Bundesrates im politischen System sind nicht geschmälert.
Ich möchte auf zwei Faktoren eingehen, die Auswirkungen auf die parlamentarische Arbeit des Bundesrates haben, obgleich sich am institutionellen Gefüge nichts ändert:
Veränderungen der Parteienlandschaft,
und Eilgesetzgebungsverfahren.
Wie in vielen Ländern Europas hat sich auch die politische Landschaft in Deutschland in den letzten Jahren verändert. Das haben wir auch im Bundesrat zu spüren bekommen.
Vor wenigen Jahren noch konnte man die Länder nach der Parteizugehörigkeit ihrer Ministerpräsidenten einteilen. Die Einteilung in A- und B-Länder funktioniert nicht mehr wie gehabt, weil sich manche Koalitionen nicht eindeutig zuordnen lassen. Heute haben wir in den 16 Ländern nicht nur Regierungschefs der beiden großen Parteien, sondern auch einen Grünen und einen Linken.
Aber auch die Zusammensetzung der Landesregierungen ist vielfältiger geworden. Die FDP - lange Zeit traditioneller Partner der CDU – ist nach Wahlverlusten nicht mehr in allen Landtagen vertreten. Der Verlust des angestammten Partners hat neue Koalitionsoptionen eröffnet - etwa zwischen der CDU und den Grünen - aber auch zu etlichen großen Koalitionen geführt.
Hinzu kommt, dass auch in Deutschland populistische Parteien wie die AfD bei den letzten Landtagswahlen an Zustimmung gewonnen haben. Sie sieht ihre Rolle selbst als Fundamentalopposition. Das erschwert die Regierungsbildung: zum einen, weil niemand mit ihr koalieren will (auch ich halte dies für ausgeschlossen), zum anderen weil Zwei-Parteien-Koalitionen mitunter nicht zur Mehrheit reichen. In vier Ländern haben wir bereits Koalitionen von drei Parteien; in Berlin bald die fünfte …
In 16 Ländern gibt es derzeit 11 verschiedene Regierungskoalitionen: schwarz allein in Bayern, große Koalitionen, wie in Sachsen, von grün-schwarz, schwarz-grün und rot-grün zu rot-rot und rot-rot-grün. Neu im Farbenspiel sind die sogenannten Jamaika-Koalition aus schwarz-rot-grün und die sogenannte Ampel aus rot-gelb-grün.
Sie sehen, meine Damen und Herren, der Bundesrat ist recht bunt in seiner Zusammensetzung. Diese bunte Mischung hat zur Folge, dass die große Koalition der Bundesregierung im Bundesrat keine parteipolitische Mehrheit hat - weder für noch gegen sich. Allerdings kann sich auch die Opposition im Bundestag nicht auf eine Mehrheit unter den Landesregierungen verlassen. Der Bundesrat kann deshalb wegen seiner parteipolitischen Zusammensetzung Gesetze weder sicher unterstützen noch aufhalten. Er ist deswegen nicht handlungsunfähig, seine Entscheidungen sind aber nicht mehr so leicht vorhersehbar.
Da im Bundesrat die Stimmen eines Landes im Block abgegeben werden, knirscht es wenn dann vorher in den Landesregierungen. Die Koalitionäre im Land müssen sich auf eine Richtung verständigen, wie sie im Bundesrat abstimmen. Das kann dazu führen, dass eine Partei in einem Land ein Vorhaben mitträgt, das sie in einem anderen ablehnt.
Die Aufweichung gewohnter parteipolitischer Konstellationen im Bundesrat eröffnet völlig neue Möglichkeiten! Eines bleibt wie es ist: Es wird intensiv um Kompromisse gerungen - über Länder- und Parteigrenzen hinweg.
Das scheint im Bund so manchen zu beunruhigen. Jedenfalls hat der Bundesfinanzminister letzte Woche mit dem Gedanken gespielt, Beschlüsse im Bundesrat nur noch mit einfacher Mehrheit zu fassen.
Mein zweiter Punkt ist Gesetzgebung im Eiltempo. Das ist in letzter Zeit häufiger zu beobachten. Parlamentarische Beratungen eines Gesetzes in Deutschland dauern im Schnitt sechs Monate. In jüngster Zeit gab es vermehrt Fälle, in denen Gesetze das parlamentarische Beratungsverfahren in sehr kurzer Zeit durchlaufen haben. Etwa bei der Finanzmarktkrise, der Eurokrise oder der Flüchtlingskrise.
Dies betrifft zum Teil komplette Verfahren, wie zuletzt die Ratifizierung des Pariser Klimavertrages: dem Bundestag wurde er am 20. September vorgelegt und am 21. und 22. September beraten. Am 23. September war die abschließende Sitzung des Bundesrates. Ähnlich schnell verliefen die Beratungen zum Asylpaket II im Februar dieses Jahres.
Vom Bundesrat wir immer häufiger erwartet, dass er - häufig unter Hinweis auf Fristen - Gesetze schnell passieren lässt und auf die übliche dreiwöchige Beratungszeit verzichtet.
Meine Damen und Herren: Der Bundesrat hat sich bisher stets zu einem solchen Fristverzicht bereit erklärt und seine eigenen Beratungen auf ein Minimum reduziert - auch ohne Ausschussberatung. Das ist zulässig. Und auch fachlich möglich, da die Fachressorts der Länder die Verfahren intensiv begleiten. Und in einigen wenigen Fällen ist dies auch zwingend erforderlich. Aber in den meisten Fällen sollte unser Selbstverständnis uns dazu anhalten, die Dringlichkeit kritischer zu hinterfragen und auf einer soliden Beratung zu bestehen, wenn wir im Gesetzgebungsverfahren als Partner ernstgenommen werden wollen.
Zum Schluss möchte ich einen Ausblick in die Zukunft wagen: Der Bundesrat etabliert und seine Mitwirkung sind fest verankert im politischen System der Bundesrepublik. Daran werden auch die aufgezeigten Entwicklungen nicht viel ändern.
Neue Möglichkeiten zu einem verstärkten Engagement sehe ich deshalb eher im europäischen und internationalen Bereich:
innerhalb der EU, etwa durch eine Aufwertung der nationalen Parlamente;
bei der Mitwirkung in internationalen Gremien wie der Konferenz der Europaausschüsse - kurz COSAC;
im gemeinsamen parlamentarischen Kontrollausschuss für Europol;
und natürlich in dieser Vereinigung!
In diesem Sinne möchte ich eine Einladung aussprechen: Das Sekretariat des Bundesrates hat ein einwöchiges Studienprogramm entwickelt, um den Austausch unter den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern der Parlamentsverwaltungen zu fördern. Alle zwei Jahre hat jeder der hier versammelten Senate die Möglichkeit, einen Teilnehmer zu entsenden. Nähere Informationen hierzu werden wir in den nächsten Wochen über die Generalsekretäre versenden.
Nutzen wir diese Möglichkeit, einander besser zu verstehen, in den Verfahren, in der Gesetzestechnik und vor allem menschlich.
Herzlichen Dank für Ihre Aufmerksamkeit!