25.10.2016

Bundesratspräsident Tillich bei Gedenkfeier zum ungarischen Volksaufstand 1956

In seiner Rede vor der ungarischen Nationalversammlung würdigte Bundesratspräsident Stanislaw Tillich die Menschen, die sich vor 60 Jahren in Ungarn für Freiheit und Selbstbestimmung eingesetzt haben.

Bundesratspräsident Tillich spricht in der ungarischen Nationalversammlung
Bundesratspräsident Tillich spricht in der ungarischen Nationalversammlung.  © Sächsische Staatskanzlei

Er erinnert an den Anteil Ungarns an der friedlichen Revolution in Ostdeutschland und warb für vertrauensvolles Miteinander in Europa. "Freiheit, Demokratie und Rechtsstaatlichkeit: Es sind diese Werte, die unser Zusammenleben in Europa heute prägen und die Europa zu etwas Besonderem machen", betonte Tillich bei der feierlichen Plenarsitzung des ungarischen Parlaments am 25. Oktober 2016.

– Es gilt das gesprochene Wort –

Sehr geehrter Herr Parlamentspräsident Köver,
sehr geehrter Herr Präsident Ader,
sehr geehrter Herr Ministerpräsident Orban,
sehr geehrter Herr Marschall Kuchcinski,
sehr geehrte Damen und Herren Abgeordnete,
sehr geehrte Ehrengäste,
meine sehr verehrten Damen und Herren!

Es ist mir eine große Ehre, heute als Präsident des Bundesrates, – unserer föderalen Parlamentskammer – und als Ministerpräsident des Freistaates Sachsen zu Ihnen sprechen zu können.

Wir erinnern heute an einen der bewegendsten Momente in der langen Geschichte Ungarns.

An eine Zeit, die für viele Menschen und in vielen Familien mit Hoffnung und mit Trauer einherging, aber auch mit dem Bewusstsein, standhaft zu bleiben.

Wir würdigen heute die Menschen, die sich mit unglaublichem Mut und großer Entschlossenheit für Freiheit und Selbstbestimmung eingesetzt haben.

Und wir gedenken der Opfer, die im Kampf um die Freiheit ihr Leben verloren haben.

Ihr Andenken wird für immer unvergessen bleiben.

Es war die Sehnsucht nach Freiheit und nach einem Leben in Selbstbestimmung, welche die Menschen in vielen Ländern in Mittel- und Osteuropa damals antrieb und verband: Die Sehnsucht nach Demokratie und nach einem Ende der kommunistischen Herrschaft.

Im Juni 1953 gingen in vielen Städten im Osten Deutschlands die Menschen auf die Straße und protestierten gegen das kommunistische Regime, das ihren Alltag mit so vielen Lasten, mit so viel Zwang beladen hatte.

Die Bewegung breitete sich rasch im ganzen Land aus und wurde zu einem Volksaufstand.

Der Aufstand wurde jedoch auf eine brutale Weise von sowjetischen Panzern niedergeschlagen.

Menschen kamen zu Tode.

Und viele fragten sich: Was ist das für eine Ideologie, die Menschen opfert, der Macht wichtiger als Leben ist?

Wie mutig waren doch die Bürger Ungarns drei Jahre später, nach den Erfahrungen im Osten Deutschlands wieder auf die Straße zu gehen!

Was mit einer Demonstration von Studenten begann, wurde zur Bewegung einer ganzen Gesellschaft. Und so wehte der Geist der Freiheit im Oktober 1956 auch durch Ungarn.

Es waren Tage des Aufbruchs, Tage voller Hoffnung und Zuversicht.

Ein freies, demokratisches und selbstbestimmtes Ungarn schien in diesen Tagen zum Greifen nah.

Wie sehr hätte es dieses stolze, traditionsreiche Land verdient gehabt!

Es waren Tage, die die Welt bewegten, die Hoffnung auf ein Ende der Teilung Europas und der kommunistischen Fremdherrschaft machten.

Leider währte diese Hoffnung auch in Ungarn nur kurz.

Die Protestbewegung mündete in einen erbitterten Freiheitskampf. Viele junge Menschen schlossen sich diesem Kampf an.

Sie wollten die Hoffnung auf ein freies Ungarn, auf ein Leben, in dem sie ihre Träume und Ziele verwirklichen können, nicht aufgeben.

Am Ende war die sowjetische Übermacht erdrückend, der Kampf nicht zu gewinnen. Tausende Ungarn verloren ihr Leben oder wurden verwundet.

Die Menschen, die sich damals in einem aussichtslosen Kampf den Panzern entgegengestellt und ihr Leben geopfert haben, gehören zu den Helden des 20. Jahrhunderts. Ihr mutiges Handeln war nicht umsonst, auch wenn sie den Sieg der Freiheit selbst nicht mehr erleben konnten.

Sie haben nicht nur für ihr Land gekämpft, sondern für einen ganzen Kontinent.

Für ein Europa, in dem sich die Menschen nach Frieden, Freiheit und einem Ende der Teilung sehnten.

Der Volksaufstand in Ungarn wurde auf eine brutale Weise niedergeschlagen.

Aber dass die kommunistische Gewaltherrschaft in den Staaten Mittel- und Osteuropas nicht alle Zeit überdauern würde, war schon damals klar.

Denn eine Diktatur kann trotz aller Unterdrückungsapparate nicht überleben, weil diese nicht in die Köpfe der Menschen schauen können, die von europäischer Aufklärung geprägt sind und die damals die Freiheit des Westens vor Augen hatten.

Heute muss Europa dieses positive Beispiel, diese Motivation für alle Menschen sein, die auf der Welt immer noch in Unterdrückung und in Diktaturen leben müssen!

1968 wehte der Geist der Freiheit durch Prag.

Auch in der damaligen Tschechoslowakei war ein Klima des Wandels und der Öffnung eingezogen.

Junge Menschen aus ganz Europa, von beiden Seiten des Eisernen Vorhangs, kamen in der Stadt an der Moldau zusammen und träumten von einer Zukunft in Freiheit.

Noch heute erzählen Zeitzeugen auch in Deutschland begeistert von diesem besonderen Moment, der als Prager Frühling in die Geschichte einging.

Einmal mehr war die Hoffnung groß: auf Veränderung, auf ein Leben in einem freien und demokratischen Land.

Einmal mehr konnte dieses Streben nach Freiheit nur mit Gewalt niedergeschlagen werden und einmal mehr starben friedliebende Menschen.

Es waren die 1980er Jahre, die alles verändern sollten.

In Polen, wo sich die Menschen schon mehrfach gegen die sowjetische Fremdbestimmung erhoben hatten, wurde die Gewerkschaft Solidarnosc gegründet.

Sie sollte im Wendejahr 1989 eine entscheidende Rolle spielen.

1989 – für uns Deutsche gehört dieses Jahr zu den glücklichsten Momenten in unserer Geschichte.

Und daran hat Ungarn einen wichtigen Anteil.

Was in den Jahrzehnten zuvor eine unerfüllte Hoffnung blieb, wurde nun Wirklichkeit.

Die Bilder der Außenminister von Ungarn und von Österreich beim Durchschneiden des Grenzzaunes gingen um die Welt.

Der Eiserne Vorhang wurde hier in Ungarn geöffnet.

Tausende Menschen aus dem Osten Deutschlands, die von der Sehnsucht nach Freiheit getragen wurden, hatten nun ein Ziel vor Augen.

Sie gelangten über die Grenze nach Österreich und von dort weiter in die Bundesrepublik.

Dass Ungarn damals unseren Landsleuten den Weg in die Freiheit eröffnet hat, dafür werden wir Deutsche immer dankbar sein.

Aber nicht jeder strebte in den Westen.

Zehntausende Menschen gingen im Herbst 1989 in Sachsen und in anderen Regionen Ostdeutschlands auf die Straße, um für Freiheit, Demokratie und Veränderung zu demonstrieren.

Die Friedliche Revolution im Osten Deutschlands wurde ein Erfolg, so wie die Samtene Revolution in der damaligen Tschechoslowakei und zuvor der Runde Tisch in Polen und der Wandel in Ungarn.

Der Sturm der Freiheit war nicht mehr aufzuhalten. Er fegte Diktaturen und Diktatoren davon.

Es war das Ende der Teilung Europas.

Wir konnten gemeinsam den Weg in die Freiheit gehen und wieder demokratisch und selbstbestimmt über unser Land und über unsere Zukunft entscheiden. Seither ist mehr als ein Vierteljahrhundert vergangen, und die Menschen in Mittel- und Osteuropa haben seit dem Fall des Eisernen Vorhangs Beeindruckendes geleistet.

Es war eine Zeit voller Veränderungen. Veränderungen, die nicht immer einfach waren, und auch mit Schwierigkeiten einhergingen.

Dass der Wandel dennoch gelungen ist, verdient Anerkennung und großen Respekt.

Meine sehr verehrten Damen und Herren,

die Menschen, die in den Jahren der kommunistischen Gewaltherrschaft auf die Straße gegangen sind, haben ihr eigenes Leben höheren Zielen untergeordnet: Freiheit, Demokratie und Rechtsstaatlichkeit.

Es sind diese Werte, die unser Zusammenleben in Europa heute prägen, und die Europa zu etwas Besonderem machen.

Wenn wir heute über unsere Zukunft in Europa sprechen, dann sollten wir uns an den langen und schwierigen Weg in die Freiheit erinnern.

Besinnen wir uns auf unsere gemeinsamen europäischen Werte.

Bauen wir Brücken zueinander und schaffen wir Vertrauen.

Betrachten wir die Herausforderungen unserer Zeit auch aus der Perspektive der jeweils anderen.

Denken wir daran, wie viel wir gemeinsam erreicht haben.

Und dass wir heute in einem Europa leben, von dem die Menschen 1953 in Ostdeutschland, 1956 hier in Ungarn, 1968 in der Tschechoslowakei und 1980 in Polen nur träumen konnten.

Ein Europa, mit dem gerade die jungen Menschen hohe Erwartungen verbinden und in das sie große Hoffnungen setzen.

Schauen wir also gemeinsam nach vorn!

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